„I have a dream“ – ein Satz, mit dem Martin Luther King 1963 Geschichte schrieb. Es war der Traum von sozialer Gerechtigkeit, von der Gleichheit zwischen Schwarzen und Weißen in den USA, den der afroamerikanische Bürgerrechtler beim Marsch auf Washington D. C. mit 250.000 Menschen teilte. Ein Traum, der in weiten Teilen Realität werden sollte. „Teile deine Träume“ – das ist auch eine Aufforderung der schwedisch-neuseeländischen Künstlerin Amanda Newall und des in Neuseeland lebenden Psychologen Leon Tan.
Das interdisziplinäre Projekt lädt Menschen ein, zusammen zu übernachten, ihre Träume zu teilen und diesen gemeinsam einen Sinn zu geben – nicht nur um die Psyche des Einzelnen zu entlasten, sondern vielmehr, um eine kollektive Kreativität zu erwecken, die eine Gesellschaft positiv beeinflusst.
„Wir können Träume als Prozess der Sinngebung für Individuen und Gruppen ansehen. Die zahlreichen emotionalen und sozialen Erlebnisse, die unser modernes Leben uns beschert – nicht selten in schwindelerregendem Tempo, können in unserem Unterbewusstsein zu einem Knoten führen“, erklärt Leon Tan. Indem wir die geträumten Bilder und Emotionen betrachten und mit anderen aufarbeiten, ließe sich dieser Knoten vielleicht lösen.
Doch stattdessen hätten Träume – und in gewissem Maße auch die Welt der Emotionen – im Zeitalter der Industrialisierung eine Abwertung erfahren. „Sie gelten als sozial bedeutungslos, und der rituelle Kontext des Teilens von Träumen ist erodiert, wenn nicht gar verschwunden“, betont Tan. „Mit dem Kapitalismus kam der Wettbewerb und es gibt vor allem Gewinner und Verlierer“. Indem bestehende soziale Strukturen nach und nach wegbröckelten, zerfalle die Gesellschaft ein Stück weit. „Es gibt so viele einsame Menschen.“
Damit einher gingen Phänomene wie die zunehmende Depressionsrate, soziale Isolation und Entfremdung sowie die Selbstmordbereitschaft Jugendlicher. Hier setzen er und Amanda Newall an: „Der soziale Kontext der Dream Clinic kann ein bisschen dazu beitragen, die Einsamkeit zu reduzieren, die sich zu einer Art Epidemie der Jetztzeit ausgeweitet hat“.
Der Terminus Traumklinik mag die Assoziation von sterilen weißen Krankenhauswänden wecken, doch das Gegenteil ist der Fall. Ein anregendes Ambiente bietet die Möglichkeit zu entspannen und loszulassen. „Wir schaffen eine kreative Atmosphäre, in der keinerlei Art von Wettbewerb entsteht, in der niemand wertet und die Kategorie Erfolg keine Rolle spielt“, betont Amanda Newall. Eine Dream Clinic sei lediglich ein vorübergehendes soziales Arrangement, in dem Träume geteilt werden, fügt Leon Tan hinzu. Auch müsse es nicht unbedingt ein Sleep Over sein. So waren es im belgischen Hasselt Hängematten, in denen der Teilnehmer sanft baumelnd ins Reich der Träume gleiten oder sich zumindest einem Tagtraum hingeben konnte.
Traumklinik auf Momentum 9 in Moss
Dreimal öffnete eine Traumklinik bereits ihre Pfosten, zuletzt Mitte Juni im norwegischen Moss anlässlich der Eröffnung der Monumentum 9. Für die Biennale nordischer Kunst hatte Amanda Newall in der Galeri F 15, Storsalen, ein Sujet geschaffen, in dem die Farbe Lila dominierte. Sie hatte sowohl die Bettdecken als auch die Kopfkissen mit lilafarbener organischer Baumwolle bezogen. Lila vermittle eine spirituelle Energie, symbolisiere Kreativität sowie den Feminismus, erklärt Amanda Newall, die derzeit ihre Dissertation über die Bedeutung von Kostümen am The University of the Arts London Chelsea College schreibt.
Die Bettdecken sind mit Symbolen dekoriert, die ursprünglich einen Bezug zum Alltagsleben hatten, die aber auch abgewandelt in den Logos großer Firmen auftauchen. „Sie wurden zu Trophäen des Kaptitalismus“, so Newall, die ein neues System einführen möchte – jenseits von Religion und Kapitalismus. Jeder Besucher darf wählen, unter welchem Zeichen er nächtigen möchte. „Es sind einfache Symbole, die leicht Eingang ins Unterbewusste finden und im Traumzustand neu arrangiert werden können“, erläutert die Künstlerin, die sich intensiv mit den frühen Formen der Symbolsprache auseinandergesetzt hat.
Vor allem das ausgeklügelte Zeichensystem des Discos von Phaistos, einer auf Kreta gefundenen tönernen Scheibe aus der Bronzezeit habe sie nachhaltig beeinflusst. Es sei eine uralte Form der Kommunikation, die ausgerechnet die sozialen Medien neu belebten: „Mit dem Internet hat sich ein neues Interesse an den Symbolen als vermittelnde, beschreibende und emotional besetzte Kommunikation herausgebildet.“ Das wohl bekannteste Zeichensystem, die in der Digitalsprache verwandten Emoji, hat Amanda Newell daher auch für die Nachthemden gewählt. „Die Emoji können im Kontext der Dream Clinic, die physischen und nicht-physichen Raum auf „glokale“ Weise verbindet, bis in die Träume dringen oder in den Traum-Rekreationen einen Akzent setzen“.
Traum-Klangschaft von Antti Saario
Eigens für die Traumklinik komponierte Antti Saario den Sound „Public Dreaming: Europe. Almost. A Fantasy „. Neben dem ästhetischen und haptischen Ambiente trägt die Musik dazu bei, die Teilnehmer in einen anderen mentalen Zustand zu versetzen. Für Saario, der sich als post-akustischee Komponist versteht, ist der Sound gleichermaßen Erfahrung, Existenz und Raum. In einer Art „Traum-Klangschaft“ verschmelzen seine Erinnerungen an einen Sturm in Falmouth, UK, an gigantische Windmühlen im iPark von Conneticut sowie die Klänge aus Beethovens Sonate Nr. 14 in C-moll (Quasi una Fantasia). Antti Saario hatte diese zehn Jahre zuvor in einer Kapelle im britischen Lancaster gehört und war von der Aufführung tief beeindruckt. „Vielleicht ist Musik die ´bewegendste´der verschiedenen Künste, die uns somit am unmittelbarsten berühren, uns emotional bewegen und damit unseren Geisteszustand ändern kann“, vermutet Leon Tan.
Seine Projektpartnerin berichtet von einer Teilnehmerin in Moss, die sich das Unendlichkeitszeichen in den Kopf gesetzt und dafür sogar eigens das Bett gewechselt hat. Tatsächlich handelte ihr nächtlicher Traum dann von der Unendlichkeit. Amanda Newall gibt an, dass andere Teilnehmer von den Projektleitern geträumt hätten: „Scheinbar entwickeln manche Teilnehmer zu uns eine besondere psychodynamische Beziehung“.
Der Teilnehmer kann aus einem Fundus phantasievoller Kostüme und Accessoires auswählen und damit seinen Traum vor der Kamera festhalten. Langfristig schwebt Amanda Newall und Leon Tan ein Traumarchiv vor, das im Internet zugänglich ist. Wie genau dieses aussehen mag und inwiefern sich die Träume wissenschaftlich aufarbeiten lassen, darüber denken die Künstlerin und der Psychologe allerdings noch nach.
“Ein Raum jenseits der Strukturen, Systeme und der Logik der Realität“
Amanda Newall, die sich als Mitglied der „globalen Diaspora“ versteht und ständig zwischen Neuseeland und Australien und Europa hin und her pendelt, interessieren vor allem die Verbindungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Träume, die auf dem physischen Umfeld, den Machtstrukturen und der Beziehung der Menschen zu ihrem Geträumten basieren. „Mich interessiert, inwiefern wir dem Kapitalismus und anderen zeitgenössischen Bedingungen entgegenwirken können, indem wir einen Raum schaffen jenseits der Strukturen, Systeme und der Logik der Realität.“
Seit Jahren beschäftigt sie sich damit, inwiefern das soziale Träumen die Situation der Immigranten sowie die öffentliche Meinung beeinflussen kann, vor allem bei Fragen der Exklusion, wie etwa dem BREXIT oder der geplanten Mauer Trumps an der Grenze zu Mexiko. Dabei ist das Social Dreaming, das sie für ihre Arbeit adaptiert, ein Konzept, den das Tavistock Institute in London maßgeblich entwickelt hat, um Recherchedaten für soziale Zwecke zu sammeln und so einen sozialen Wandel zu erzielen.
Dem promovierten Psychologen Leon Tan wiederum, der in Singapur geboren wurde und später u.a. in Indien, Neuseeland, Großbritannien und England lebte, geht es vor allem um die Dekolonialisierung des Geistes: „In diesem Zusammenhang interessiert mich der Prozess der Globalisierung und Gegenglobalisierung und was uns Träume darüber sagen können. Wenn wir Traummaterial von verschiedenen Orten der Welt sammeln, ist es vielleicht möglich, Ähnlichkeiten und Unterschiede im Traumleben auszumachen“.
Beeindruckend finde er etwa die Maori Kultur in Neuseeland, deren“ Koexistenz in Verschiedenheit“ sich auf diverse Kontexte übertragen lasse. So gehen die Maori davon aus, dass neben dem wachen physischen Universum eine andere Welt besteht. Träume werden demzufolge als aus dem Körper entwichene Geister (wairua) verstanden und dienen als gute oder schlechte Omen. Die Maori treffen sich in Gemeinschaftshäusern, um dort zusammen zu übernachten und zu träumen: „Der Traum wird nicht nur für den Träumenden als bedeutungsvoll betrachtet, sondern für den gesamten Stamm“, erläutert Leon Tan.
Träume als Kommunikation mit den Göttern
Die Aborigines stehen ebenso in einer langen Tradition des Traumteilens und auch die alten Griechen nahmen ihre Träume ernst: „Sie sahen Träume nicht als Nachrichten unseres Geistes, sondern hielten sie für göttliche Botschaften. Auch in der Geschichte des Christentums gab es immer ein großes Interesse an Träumen als Kommunikationsweg. Es war eine Kommunikation mit Gott.“ Bis vor etwa 150 Jahren habe es auch in Europa soziale Kontexte gegeben, um Träume mit einer Gemeinschaft zu teilen.
Leon Tan hofft, dass durch das „bescheidene Experiment“ , das er und Amanda Newall ins Leben gerufen haben, Menschen zusammenrücken und nach kreativen Alternativen zum vorherrschenden System suchen. „Für die Welt von morgen wünsche ich mir mehr Mitgefühl und weniger soziale Isolation. Vielleicht wird es uns gelingen, den rationalen und irrationalen Teil unserer Gesellschaften wieder zusammenzuführen“. Das Beispiel von Martin Luther King zumindest lehrt: Manchmal werden geteilte Träume wahr.